Die sieben Säulen der Achtsamkeit – und wie sie im Alltag lebendig werden
- Martin

- 10. Nov.
- 4 Min. Lesezeit
Einleitung
Achtsamkeit ist kein Werkzeug, sondern eine Haltung. Jon Kabat-Zinn, der Begründer des MBSR-Programms (Mindfulness-Based Stress Reduction), beschreibt sieben Qualitäten, die diese Haltung tragen: Nicht-Urteilen, Geduld, Anfängergeist, Vertrauen, Nicht-Greifen, Akzeptanz und Loslassen.
Diese sieben Säulen sind wie Orientierungspunkte auf einem Weg – sie erinnern uns daran, wie wir mit dem umgehen, was uns begegnet. Und genau darin liegt ihre Kraft: Sie sind kein fernes Ideal, sondern eine Einladung, jeden Tag bewusster zu leben – in Führung, im Team, im Gespräch, in Konflikten, im ganz normalen Leben.
1. Nicht-Urteilen – Wahrnehmen statt Bewerten
Wir bewerten ununterbrochen: Das Gespräch war „gut“, die Kollegin war „anstrengend“, das Meeting „Zeitverschwendung“. Achtsamkeit beginnt, wenn wir bemerken, dass wir bewerten.
In Führung: Ein Teammitglied bringt eine Idee, die spontan „unrealistisch“ wirkt. Statt das sofort zu denken oder zu sagen, hilft eine Sekunde Stille:
„Interessant – erzähl mehr, was meinst du genau?“
So öffnet sich Raum für Neues.
Im Alltag: Statt „Das Wetter ist schlecht“ – „Es regnet.“ Diese kleine sprachliche Veränderung ist Training für den Geist: Wahrnehmen, ohne Etikett.
💡 Praxisimpuls: Achte heute darauf, wie oft du innerlich urteilst – über andere, Situationen oder dich selbst. Nimm es einfach wahr. Mehr braucht es nicht.
2. Geduld – Vertrauen in den Prozess
Geduld heißt nicht, passiv zu sein. Geduld ist aktives Vertrauen – das Wissen, dass Entwicklung Zeit braucht.
In Teams: Wenn Veränderung stockt oder ein Lernprozess länger dauert, spüren Führungskräfte oft Ungeduld. Doch Wachstum folgt keiner linearen Kurve. Wie bei einer Pflanze: Man kann das Wachstum nicht durch Ziehen beschleunigen, ohne die Wurzeln zu gefährden.
Im Alltag: Im Stau, in der Warteschlange oder beim Warten auf eine Antwort. Geduld heißt: „Ich bin hier – und das darf so sein.“
💡 Praxisimpuls: Wenn du merkst, dass du drängst, atme bewusst. Frage dich: Was will ich gerade erzwingen, das vielleicht einfach reifen darf?
3. Anfängergeist – Offenheit statt Routine
Der „Anfängergeist“ ist das Gegenteil von „Ich weiß schon, wie das läuft“. Er lädt dazu ein, jedem Moment mit Neugier zu begegnen – selbst oder gerade dem Bekannten.
In Führung: Statt in Meetings alte Argumente zu wiederholen, stelle echte Fragen:
„Was könnten wir heute anders sehen als beim letzten Mal?“ So entsteht Raum für Perspektivwechsel und Innovation.
Im Alltag: Auch der morgendliche Kaffee kann neu sein – der Duft, die Temperatur, das erste Schlucken. Jeder Moment ist einmalig, wenn wir ihn wirklich wahrnehmen.
💡 Praxisimpuls: Suche dir heute eine alltägliche Tätigkeit (Duschen, Zähneputzen, Autofahren) und tu sie mit Anfängergeist. Als würdest du sie zum ersten Mal erleben.
4. Vertrauen – in sich und das Leben
Vertrauen wächst aus Erfahrung: Wir erleben, dass wir Herausforderungen überstehen – und lernen, uns selbst zuzutrauen, was kommt.Achtsamkeit stärkt dieses Vertrauen, weil sie uns wieder mit unserer inneren Stabilität verbindet.
In Teams: Führung auf der Basis von Vertrauen heißt: Menschen Raum geben, ihre Stärken zu entfalten, statt sie zu kontrollieren. Vertrauen erzeugt Verantwortung – Misstrauen erzeugt Angst.
Im Alltag: Vertrauen heißt auch, dem Moment zu trauen. Nicht sofort eine Antwort zu brauchen, nicht alles absichern zu müssen.
💡 Praxisimpuls: Wenn du merkst, dass du zweifelst oder kontrollieren willst – frage dich: Was würde passieren, wenn ich jetzt vertraue – mir, dem Prozess, dem anderen?
5. Nicht-Greifen – Raum statt Kontrolle
Wir sind geübt darin, festzuhalten: An angenehmen Momenten, an Erfolg, an Sicherheit. Und gleichzeitig stoßen wir das Unangenehme weg. Achtsamkeit übt das Gegenteil: Raum geben.
In Führung: Nicht jeder Konflikt muss sofort gelöst werden. Manchmal ist es klüger, erst zu verstehen, bevor man eingreift. Präsenz ist oft wirksamer als Aktionismus.
Im Alltag: Wenn du im Gespräch merkst, dass du „Recht behalten“ willst – halte inne. Lausche. Nicht-Greifen bedeutet: Ich muss nicht alles sofort kontrollieren.
💡 Praxisimpuls: Nimm dir heute einen Moment, in dem du bewusst nicht eingreifst – egal ob im Gespräch, in einem Gedanken oder in einem Impuls. Das ist mentale Freiheit.
6. Akzeptanz – Die Dinge sehen, wie sie sind
Akzeptanz ist vielleicht die herausforderndste Säule. Sie bedeutet nicht, alles gutzuheißen, sondern anzuerkennen, was gerade da ist.
In Teams: Ein Projekt läuft anders als geplant, ein Fehler passiert. Akzeptanz bedeutet: „So ist es jetzt. Was lernen wir daraus?“ Erst wenn wir die Realität anerkennen, können wir sie gestalten.
Im Alltag: Ein verspäteter Zug, eine Krankheit, ein Missverständnis. Akzeptanz nimmt dem Widerstand die Energie – und öffnet Handlungsspielraum.
💡 Praxisimpuls: Beobachte heute eine Situation, die du ablehnst. Atme ein und sag innerlich: „Auch das gehört dazu.“
7. Loslassen – Vertrauen ins Werden
Loslassen heißt: Nicht festhalten, was vorbei ist. Nicht kämpfen gegen das, was nicht mehr ist. Nicht zwingen, was noch nicht reif ist.
In Führung: Loslassen von Perfektion, von alten Erfolgsstrategien, von Kontrolle.Wer loslässt, schafft Raum für neue Wege und für das, was entstehen will.
Im Alltag: Loslassen kann bedeuten:Einen Gedanken ziehen lassen.Eine Schuld vergeben. Einen freien Abend ohne To-do-Liste zulassen.
💡 Praxisimpuls: Schließe den Tag mit einer kleinen Reflexion: Was darf ich heute loslassen, damit morgen Neues entstehen kann?
Fazit
Die sieben Säulen der Achtsamkeit sind keine Checkliste, die man abhaken kann. Sie sind vielmehr eine innere Haltung, die wächst, wenn wir sie leben. Manchmal in Meditation, oft mitten im Alltag – im Gespräch, im Stau, im Konflikt, in der Freude.
Achtsamkeit heißt nicht, das Leben zu kontrollieren. Sondern wach, präsent und freundlich darin zu sein.
Und das ist vielleicht die größte Form von innerer Freiheit.


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